Wie viel kostet eine Ohrfeige?

Ottmar Hitzfeld beherrscht die Kunst der Motivation. Als Stürmer wurde er in der Schweiz Torschützenkönig, als Trainer in Deutschland siebenmal Meister und zweimal Champions League-Sieger. Wenn Hitzfeld spricht, hört die Mannschaft zu. Wenn nicht, unterbricht er das Training. Ein Gespräch über seine Rolle als Coach und Motivator, St.Galler Nati-Pfiffe und die Ohrfeige im Bayern-Training. Erschienen im Fussballmagazin SENF, 2016.

Illustration: SENF

SENF: Herr Hitzfeld, wie motivieren Sie sich selbst?

Hitzfeld: Die Leidenschaft für den Fussball treibt mich an. Ich bin jeden Tag gerne ins Training gegangen. Zusätzlich motivierte mich eine Kombination aus Wille, Disziplin und Pflichtbewusstsein. Ich wollte immer einen optimalen Job machen – mit einem klaren Ziel vor Augen: das nächste Spiel gewinnen. Dafür habe ich stets alles unternommen.

SENF: Wie haben Sie gelernt, andere zu motivieren?

Hitzfeld: Ich habe mir das alleine beigebracht. Natürlich haben mich die psychologischen und pädagogischen Inhalte aus dem Lehrerstudium geprägt. Aber als Autodidakt zählte für mich immer: Ich führe die Mannschaft so, wie ich gerne selbst geführt werden möchte.

SENF: Wie wollten Sie denn als Spieler geführt werden?

Hitzfeld: Ich wünschte mir einen Trainer, der mich unterstützt. Einen, der auch mal Verständnis zeigt, wenn man schlechter spielt,und einen, der Vertrauen schenkt. Ausserdem wünschte ich mir einen Trainer, der klar kommuniziert, ehrliche Gespräche führt und einen dadurch an seinen Entscheidungen teilhaben lässt. Als Spieler muss man die Entscheidungen des Trainers nachvollziehen können. Es muss jedem Spieler klar sein: Was trainiert man heute und weshalb. Transparenz motiviert.

SENF: Liessen Sie sich als Trainer von Aussenstehenden coachen? Hitzfeld: Kaum. Ich war immer ein Autodidakt. Als ich 1983 beim SC Zug begann, war der Trainer ein Einzelkämpfer. Später kam ein Assistent dazu – heute hat man einen ganzen Staff aus Spezialisten und Betreuern um sich. Ich habe mich als Trainer immer hauptverantwortlich für den Erfolg und Misserfolg gefühlt. Ich wurde dafür bezahlt, dass ich Erfolg bringe und Leistung zeige. Diese Verantwortung lässt sich schwer aufteilen. Der Druck hat meinen Ehrgeiz angestachelt.

SENF: Wie stachelten Sie einen Spieler an? Wie machten Sie ihn richtig «heiss» für den Ernstkampf?

Hitzfeld: Das geht nicht von null auf hundert. Ein einzelnes Gespräch vor dem Spiel reicht nicht. Nötig ist eine stetige Führung. Für mich war entscheidend, die Mannschaft in jedem Training zu führen. Ich habe vor jedem Training die Wichtigkeit unterstrichen – und dann Höchstleistung verlangt. So wie man trainiert, so spielt man.

SENF: Was, wenn die Mannschaft im Training keine Leistung zeigte?

Hitzfeld: Dann habe ich das Training unterbrochen und an die Mannschaft und den Teamgeist appelliert. Das kam bestimmt jede Woche vor. Nach einem Sieg vergessen die Spieler schnell, sind zufrieden und dann lässt die Leistung nach. Da ist der Trainer gefordert, immer wieder die Konzentration und Spannung hochzuhalten.

SENF: Und in der Halbzeit in der Kabine? Was passiert da genau?

Hitzfeld: Der Schiedsrichter pfeift ab, man wartet bis alle Spieler in der Kabine sind. Da lassen sich einige kurz massieren und nach weiteren drei, vier Minuten versammelt der Trainer die Mannschaft. Ich habe dann immer zuerst die erste Halbzeit analysiert. Was war gut? Was war weniger gut? Warum kam man in Bedrängnis? Hier wollte ich mit taktischen Lösungsansätzen weiterhelfen. Und dann ist es wichtig, die Mannschaft für die zweite Halbzeit neu einzustellen. Ich wollte der Mannschaft einen Weg aufzeigen und die Richtung vorgeben.

SENF: Was sagten sie, wenn sie mit der Mannschaftsleistung nicht zufrieden waren?

Hitzfeld: Ich war in meiner Karriere zum Glück selten im Rückstand [lacht]. Viele haben das Gefühl, dass auf eine schlechte Leistung zwingend eine hitzige Kabinenpredigt des Trainers folgen muss. Ich sehe das anders: Wenn man nicht überzeugend spielt, muss man in den Spielern das Selbstvertrauen wecken. Keiner spielt gerne schlecht. Entscheidend ist, die Ursache zu finden, weshalb die gewünschte Leistung ausblieb. War es Überheblichkeit, Nervosität oder spielte schlicht und einfach der Gegner stark auf? Dies muss man herausspüren und dann entsprechend entgegenwirken.

SENF: Für all das muss man aber an die Spieler herankommen. «Der Trainer erreicht seine Spieler nicht mehr», heisst es oft bei Trainerentlassungen. Wie reagierten Sie, wenn Sie realisierten, dass Sie die Spieler nicht mehr erreichten?

Hitzfeld: Wenn ich spürte, ein Spieler lässt nach, suchte ich das Gespräch mit ihm und machte klar, dass ich mit seiner Leistung nicht einverstanden bin. Dann stand der Spieler in der Verantwortung. Wenn die Reaktion ausblieb, liess ich ihn auf der Bank oder wechselte ihn aus.

SENF: Knallhart!

Hitzfeld: Ja, natürlich. Es geht um Leistung. Und um die Autorität des Trainers. Man darf nicht vergessen: Die Mannschaft sieht alles. Wenn man als Trainer inkonsequent ist, dann lässt die Gesamtleistung nach.

SENF: Sie waren langjähriger Vereinstrainer. Offenbar haben Sie die Spieler erreicht. Wie haben Sie es geschafft, die Spieler nicht zu langweilen? Oder anders gefragt: Wie bleibt ein Trainer interessant?

Hitzfeld: Man sollte nicht zu viele Geschichten erzählen. Sonst geht einem irgendwann die Fantasie aus und man verbraucht sich. Trainer, die langfristig denken, arbeiten sachlich und beschränken sich auf das Wesentliche.

SENF: Was sollte der Trainer dabei für den Spieler sein: Vaterfigur oder Kumpel?

Hitzfeld: Für mich war wichtig, dass die Spieler Vertrauen zu mir haben. Das geht nur über die Glaubwürdigkeit. Du musst als Trainer ehrlich sein und versuchen, gerecht zu handeln. Klar, jeder Ersatzspieler fühlt sich ungerecht behandelt. Und trotzdem: Es darf im Team keine Unterschiede geben, wie Spieler vom Trainer behandelt werden.

SENF: Wie gelingt es Ihnen, Zweifel auszuschalten, wenn sich das Team in einer Abwärtsspirale befindet?

Hitzfeld: Indem man noch mehr Wert auf die Vorbereitung legt. Je schlechter es läuft, desto mehr muss man sich mit der Mannschaft auseinandersetzen. Ich habe zudem versucht, die Mannschaft mit erfolgreichen Szenen zu konfrontieren, so dass sie sich visuell einen erfolgreichen Spielverlauf vorstellt. Denn schlussendlich zählt die eigene Überzeugung. Auch wenn es sportlich mal nicht lief, war ich dennoch immer überzeugt, das nächste Spiel zu gewinnen.

SENF: Tatsächlich? Oder sind Sie ein guter Schauspieler?

Hitzfeld: Ich glaube schon, dass ich das bin. Muss man sein als Trainer.

SENF: Weshalb?

Hitzfeld: Die Mannschaft darf nicht spüren, dass der Trainer auch Druck empfindet und nervös ist. Ich wollte vor der Mannschaft und der Presse stets überzeugt auftreten.

SENF: Hand aufs Herz: Haben Sie immer daran geglaubt, was Sie dem Team «gepredigt» haben?

Hitzfeld: Wenn ich nicht mehr daran geglaubt hätte, hätte ich aufgehört. Wenn ich in schwierigen Situationen war, wurde mein eigener Ehrgeiz geweckt und ich wollte es im nächsten Spiel korrigieren und wieder auf die Erfolgsspur zurückkehren.

SENF: Fussballer gelten heute als Diven. Ist der moderne Fussballer überhaupt kritikfähig?

Hitzfeld: Jeder Mensch ist kritikfähig. Entscheidend ist die Art und Weise, wie man jemanden kritisiert. Ich bin überzeugt, dass offene, sachliche Kritik immer einen Empfänger findet.

SENF: Loben Sie auch?

Hitzfeld: Das Lob war für mich immer ein wichtiges Motivationsmittel. Da darf man nicht sparen. Es gibt viele Trainer, die viel kritisieren und wenig Komplimente aussprechen. Das führt zu einem Druck, der sich negativ auf die Leistung auswirkt. Man darf nicht vergessen, dass es auch in jeder Niederlage positive Szenen gibt.

SENF: Zum Beispiel?

Hitzfeld: Das WM-Spiel mit der Schweizer Nationalmannschaft gegen Frankreich 2014. Da spielten wir eine schlechte erste Halbzeit und wurden prompt vom Gegner zerrissen. Im Nachhinein haben wir speziell die eigenen Angriffe analysiert. Wir haben der Mannschaft vor Augen geführt, dass unsere Leistung nicht so schlecht war, wie darüber geschrieben wurde. Das nächste Spiel gegen Honduras gewannen wir mit 3:0.

SENF: Wenn Ihnen etwas nicht passt – bestrafen Sie?

Hitzfeld: Ich habe Geldstrafen verteilt, ja.

SENF: Wann?

Hitzfeld: Bei Bayern, wenn Spieler alkoholisiert gefahren sind und den Führerschein verloren haben. Oder Bixente Lizarazu, der Lothar Matthäus im Training geohrfeigt hat.

SENF: Wieviel kostet eine Ohrfeige unter Hitzfeld?

Hitzfeld: Im Schnitt war das eine Siegesprämie: 15’000 Euro. Aber es blieb bei der Geldstrafe. Wenn man die Spieler deswegen auf die Bank setzt, straft man sich ja selbst.

SENF: Gab es Straftrainings unter Hitzfeld?

Hitzfeld: Nein. Davon halte ich nichts. Ich liess höchstens härter trainieren. Dies ist für mich der Weg, dem Team zu zeigen, dass der Trainer sauer ist.

SENF: Und wenn Spieler einfach zusätzliche Motivation brauchten? Liessen Sie sie dann über glühende Kohlen laufen?

Hitzfeld: Das finde ich total überzogen. Was mache ich denn das nächste Mal? Da muss man immer wieder etwas Neues erfinden. So wird der Trainer unglaubwürdig.

SENF: Welchen Einfluss haben Fans auf die Motivation der Mannschaft?

Hitzfeld: Man sagt nicht umsonst, die Fans seien der zwölfte Mann. Sie können der Mannschaft helfen – oder sie auch schwächen. Die einen unterstützen die Mannschaft, wenn es schlecht läuft. Gerät man beispielsweise in Dortmund in Rückstand, wird es noch lauter. Bei anderen Vereinen folgen Schmähgesänge und Pfiffe. Das kann eine Mannschaft zusätzlich ins Unglück stürzen.

SENF: Sie haben erlebt, wie Streller und Frei vom St.Galler Nati-Publikum ausgepfiffen wurden. Wie sind Sie als Trainer damit umgegangen?

Hitzfeld: Das habe ich vor der Mannschaft angesprochen und mich via Medien darüber beklagt. In solchen Situationen muss man der Mannschaft den Rücken stärken und die Bedeutung der Publikumsreaktion relativieren. Der FC Basel ist nun mal nicht so beliebt in der Ostschweiz. Als Fussballprofi muss man das wegstecken können. Wenn man im nächsten Spiel eine Top-Leistung bringt, verstummen die Kritiker.

SENF: Welche besonderen Erinnerungen verbinden Sie mit dem FC St. Gallen?

Hitzfeld: St. Gallen, das waren mit dem FC Basel immer heisse Spiele. Früher schon, vor 40 Jahren. Das Publikum in St. Gallen ist laut und aggressiv. Da wird die Mannschaft unterstützt – und der Gegner ausgepfiffen. Sion und St. Gallen – das waren immer besondere Spiele.

SENF: Herr Hitzfeld, Sie sind jetzt Rentner. Wie lebts sich ohne feurige Motivationsansprachen?

Hitzfeld: Der neue Lebensabschnitt macht mir viel Freude. Es fühlt sich gut an, nicht mehr an Ergebnissen gemessen zu werden. Der Druck ist weg. Ich muss nicht mehr den Kopf hinhalten und geniesse den Fussball entspannter. Und ich schlafe ruhiger.