Was macht denn der Beckenbauer da?
Treffen sich Franz Beckenbauer und der Künstler Erwin Wurm auf einer Autobahnraststätte, steckt die Kunsthistorikerin Dorothea Strauss dahinter. Im Vorfeld der WM 2006 kuratierte sie im Berliner Gropius Bau die opulente Fussballausstellung Rundlederwelten. Zuvor leitete sie die Kunst Halle St.Gallen, danach war sie Direktorin des Museums Haus Konstruktiv in Zürich – heute arbeitet sie in der Versicherungsbranche. Ihr ungebrochenes Lieblingswort: Anschlussfähigkeit. Erschienen im Fussballmagazin SENF, 2022.

Bild: Gian Marco Castelberg
SENF: Sie haben im Vorfeld des Gesprächs darum gebeten, die Fragen, die ich Ihnen gleich stellen werde, zu umreissen. Fussball und Kunst – ein Thema, das einer gründlichen Vorbereitung bedarf?
Strauss: Eine gründliche Vorbereitung ist nie verkehrt. Gründlichkeit hilft, um etwas herauszubekommen. Als ich erstmals zu Fussball und Kunst recherchierte, realisierte ich, dass sich viele Künstler:innen mit dem Alltagsphänomen Fussball beschäftigen. Auch für sie gilt es, genau hinzusehen, den Alltag zu analysieren, eine neue Perspektive auf ein Thema zu gewinnen und Fragen zu stellen. Das Gründliche trägt auch zu gelungenen künstlerischen Arbeiten bei.
SENF: Wie erklären Sie einem Fussballfan, was für Sie Kunst ist?
Ehrlich gesagt stört mich diese Frage. Ich weiss, was Sie meinen, aber das ist zu eindimensional. Denn wir dürfen uns nichts vormachen: Auch Fussballfans sind kulturaffine Leute; und umgekehrt gibt es ganz viele Künstler:innen, die sich mit Fussball beschäftigen. Oder wenn man sich ein Magazin wie das 11 Freunde ansieht. Seit den 1960er- und 1970er-Jahren ist das Fansein längst nicht so weit vom Intellektuellen und Philosophischen entfernt, wie es gerne dargestellt wird.
SENF: Aber Ihre persönliche Definition würde mich dennoch interessieren. Was verstehen Sie unter Kunst? Und was reizt Sie daran?
Kunst zeigt Möglichkeiten auf, weckt unterschiedliche Perspektiven in uns, hat mit Geschichte und Kultur zu tun. Kunst schafft es, viele zu bewegen. Sie kann analytisch sein, spricht zugleich die Emotionen und den Intellekt an. Und sie weckt den Gestaltungssinn der Menschen. All das finde ich hervorragend an Kunst. Und was mir besonders gut gefällt, ist, dass Kunst viele Anschlussfähigkeiten kennt.
SENF: Was meinen Sie damit?
Künstler:innen schaffen mit ihren Werken Verbindungen. Kunst ist kein Solitär, nichts Einzelnes, was irgendwo dasteht. Kunst schafft Brücken zu ganz verschiedenen Themen, verschiedenen Fragstellungen oder aktuellen Herausforderungen – das macht sie so aufregend.
SENF: Sie sind in einem niedersächsischen 5000-Seelen-Dorf geboren, wuchsen in Israel, Holland, der Schweiz und Deutschland auf. Wie kamen Sie erstmals in Kontakt mit Kunst? Und wie erstmals in Kontakt mit Fussball?
Meine Familie ist geprägt von Industriellen und von Kulturschaffenden. Ich bin mit der Verknüpfung dieser beiden Welten aufgewachsen. Meine Eltern waren Musiker; Musik, Kunst und Literatur haben zuhause früh eine Rolle gespielt – und die Naturwissenschaften.
SENF: Weshalb interessieren Sie sich für Fussball?
Es ist ein fantastisches strategisches Spiel, das auf einem Rasenfeld während 90 Minuten fast alle Facetten des Lebens vorführt. Fussball ist gewissermassen eine metaphorische Versuchsanordnung für die Wirklichkeit.
SENF: Haben Sie als Kind selbst Fussball gespielt?
Strauss: Nein, das hat mich nie interessiert. Ich war eine Schwimmerin und Fechterin, nie eine Fussballspielerin. Den Fussball habe ich durch die Augen meines Vaters entdeckt. Gemeinsam mit ihm habe ich mir die Spiele angesehen, ich war seine kritische Stimme. Mein Vater war ein unglaublicher Fan, von verschiedenen Vereinen. 1. FC Köln, Borussia Dortmund oder Werder Bremen. Partien in den unteren Ligen haben wir uns auch ab und an im Stadion angesehen, die Weltmeisterschaft oder die Bundesliga im Fernsehen.
SENF: Die kleine Dorothea Strauss und ihr Vater sitzen 90 Minuten vor dem Fernseher. Was spielt sich da genau ab?
Strauss: Also: Mein Vater sitzt da. Emotionen, Emotionen. Die kleine Dorothea sitzt daneben, sagt zu ihm: «Findest du es nicht komisch, dass die immer von der einen zur anderen Seite rennen?» Mein Vater: «Was? Von der einen zur anderen Seite? Jetzt guck dir das mal genau an. Schau dir das Spiel an, wie die Formen sind, die Figuren.» «Was denn für Figuren?» – «Jetzt guck einfach mal, schau genau hin, wie der Ball weitergespielt wird, wie die Mannschaften funktionieren.» Mein Vater hat mir beigebracht, Fussball zu schauen und zu lieben, weil er Analyse betrieben hat. Jedes Spiel haben wir ganz genau analysiert. Doch ich hatte immer eine klare Vorstellung von Gerechtigkeit. Wenn ich das Gefühl hatte, jemand sei gefoult worden, habe ich gesagt: «Der da – der hat gefoult.» «Nein», hat mein Vater geantwortet, «das liegt im Bereich des Erlaubten.» «Was, im Bereich des Erlaubten?» So so haben wir diskutiert.
SENF: Sie studierten Kunstgeschichte in Frankfurt, arbeiteten später in der Stadt. Sind Sie Eintracht-Fan?
Strauss: Nein. Ich gucke einfach unheimlich gerne Fussball – bin eine analytisch-emotionale Fussballzuschauerin. Ich schaue mir an, was passiert, wie gespielt wird, wie die Gruppe zusammenhält, wie sie plötzlich die Nerven verliert, wenn sie unter Druck ist. Wie sie sich wieder berappelt. Wie sie gemeinsam funktioniert. Das sind Dinge, die mich sehr interessieren. Fan eines bestimmten Vereins war ich eigentlich nie. Aber natürlich hin und wieder im Stadion, später in Freiburg, oder damals im Frankfurter Waldstadion. Die Eintracht war zu dieser Zeit ein Fussballclub zwischen Auf- und Abstieg. Wenn die Eintracht verlor, lag die Stadt in Trauer – wenn sie gewann, war die Euphorie nicht zu übersehen. Das hat mich auch mitgerissen.
SENF: 1996 bis 2001 waren Sie Kuratorin in der Kunst Halle Sankt Gallen. Was für Erinnerungen haben Sie an die Ostschweiz?
Strauss: Ich habe St.Gallen lieb, sehe mich bis heute mit der Ostschweiz verbandelt. Die Zürcher Kulturszene pflegte zu dieser Zeit gewisse Vorbehalte gegenüber der Ostschweiz, in St.Gallen habe ich diese nie bestätigt gesehen. In meinen Augen war die Stadt interessant und weltoffen. Im Stadion war ich allerdings nie.
SENF: Nachdem Sie als Ausstellungsmacherin in St.Gallen, Freiburg und Zürich tätig gewesen waren, sprangen Sie als Kuratorin der grossen Berliner Fussballkunstausstellung Rundlederwelten für den verstorbenen Ausstellungsmacher Harald Szeemann ein. Wie kam es dazu?
SENF: Das Umfeld von Szeemann fragte mich an, ob ich die Ausstellung realisieren würde. Ich sollte zu dieser Zeit eine Stelle als Direktorin im Zürcher Museum Haus Konstruktiv antreten und hatte soeben den Vertrag unterschrieben. Der Stiftungsrat war wenig «amused», dass ich zunächst in Berlin eine Fussballausstellung machen wollte. Aber für mich war das eine geradezu schicksalhafte Möglichkeit, auch weil Szeemann für mich mehr als eine kuratorische Kultfigur war, ich habe ihn als Menschen von Herzen geschätzt. Also musste ich nicht zweimal überlegen; hätte ich die Ausstellung nicht machen können, wäre ich vom Vertrag beim Haus Konstruktiv zurückgetreten.
SENF: So weit kam es nicht. Wie überzeugten Sie den Stiftungsrat, dass Sie sich zuerst dem Fussballvorhaben widmen konnten?
Strauss: Ich habe transparent gesagt, worum es mir geht – und weshalb ich das Projekt schätze. Bereits davor hatte ich in meinen Ausstellungen angesehene Persönlichkeiten wie Christoph Büchel [Anm. d. Red: Schweizer Aktionskünstler] oder Tatiana Trouvé [Anm. d. Red: Pariser Installationskünstlerin] gezeigt, die wenig Berührung zur klassischen konstruktiven Kunst haben. Mir war es wichtig, für einen seriösen Umgang mit Kunst zu stehen, der den Inhalten folgt. Das galt auch für die Fussballausstellung. Der Stiftungsrat stimmte letztlich zu und nutzte die Publicity. Wir verschickten eine Karte im Umfeld des Haus Konstruktivs: «Das Runde muss ins Eckige», stand darauf, nach dem bekannten Ausspruch von Sepp Herberger. Doch hier meinten wir: Rund für Fussball, eckig für den Konstruktivismus.
SENF: Im Vorfeld von Rundlederwelten sprachen Sie in Interviews gerne von einer «künstlerischen Position», aus der Sie sich der Fussballthematik nähern. Was heisst das genau?
Strauss: Für mich war es wichtig, dass ich aus der Beschäftigung mit der Kunst heraus die Themen der Ausstellung setzte. Also nicht die klassischen Fussball-Aspekte vorab festlegte wie zum Beispiel Feld, Tor und Ball. Vielmehr suchte ich den Austausch mit den Kunstschaffenden; so stiessen wir auf Themenfelder wie Lust, Träume, Spass, Streit, Kampf, Fairplay oder auch Macht. Stück für Stück kam die Ausstellung auf diese Weise zusammen. Wir hatten im Berliner Gropius Bau viel Platz, um die Werke zu zeigen – und auch das nötige Budget, um neben bestehenden Arbeiten eigens dafür neu geschaffene Werke zu finanzieren.
SENF: Rundlederwelten – der Titel der Ausstellung stammt von Harald Szeemann. Was verbinden Sie damit?
Strauss: Ein Wort, das sogleich die grössere Dimension zeigt. Rund und Leder, da stecken zwei Begriffe drin – ich verstehe sie als ein Verweis auf etwas Gewachsenes. Und bei Welten schwingen Lebenswelten mit; man denkt beispielsweise an Fussballkarrieren. Menschen, die aus einfachen Verhältnissen dank des Fussballs in eine neue Welt katapultiert werden. Wichtig scheint mir die Pluralform: nicht «Rundlederwelt», sondern «Rundlederwelten». Da sind so viele Themen drin, die Pluralität ist zentral. Für mich war und ist es ein fantastischer Titel.
SENF: Im Untertitel der Ausstellung heisst es «Fussball:Kunst». Also nicht Fussball gleich Kunst, sondern Fussball – mathematisch betrachtet – durch Kunst. Oder als Resultat gelesen – Fussball zu Kunst. Wieso dieser Untertitel?
Strauss: Wie beim Begriff «Rundlederwelten» war es uns auch hier wichtig, verschiedene Lesarten anzuregen. Klassisch von links nach rechts gelesen heisst es Fussball geteilt durch Kunst, andersherum gelesen gelangt man von der Kunst zum Fussball. Ein Doppelpunkt diffundiert, in beide Richtungen. Zugleich gefällt mir das Spiel mit der Mathematik, als gäbe es da eine Gleichung. Es steckt so eine kleine Behauptung drin: Da gibt es ein Verhältnis. Schliesslich geht es auch um die eindeutige Klarheit der beiden Themen.

Plakatsujet: Erwin Wurm
SENF: Das Ausstellungsplakat zeigt Franz Beckenbauer, der sich unter der Anleitung des Künstlers Erwin Wurm vorsichtig an eine Hauswand anlehnt und dabei auf Kopf- und Schulterhöhe eine Orange ausbalanciert. Was soll das?
Strauss: Das Sujet wurde spezifisch für die Ausstellung entwickelt. Gemeinsam mit dem Kurator und Publizisten Christoph Doswald, mit dem ich den Ausstellungskatalog realisierte, dachte ich darüber nach, wie sich das Verhältnis von Fussball und Kunst in einem Key Visual widerspiegeln könnte. Uns schwebte eine ikonische Darstellung vor, die einerseits auch ein Kunstwerk ist und andererseits Fragen aufwerfen würde: Was ist das? Was passiert da? Ich hatte von Beginn an Franz Beckenbauer im Kopf. Dann fragten wir den international renommierten Künstler Erwin Wurm an. Wurm entwickelt seit 1988 die Werkgruppe der «One Minute Sculptures», Skulpturen für eine Minute, die jede:r selber ausführen kann. Wir brachten also zwei Ikonen zusammen: Wurms «One Minute Sculpture» und den Fussballstar Beckenbauer, denn beide sagten sofort zu. Auf einer Raststätte trafen wir uns mit den beiden – Wurm leitete an. Wer will, kann in den Früchten ausserdem den Doppelpunkt des Untertitels erkennen. Kann man so sehen, muss man aber nicht. Beckenbauer war jedenfalls begeistert.
SENF: Wieso gerade Beckenbauer?
Strauss: Weil er Fussballgeschichte verkörpert, in Deutschland etwas auslöst, zugleich weltweit bekannt ist. Natürlich gibt es viele andere grossartige Fussballikonen, die wir hätten anfragen können. Doch Beckenbauer schien uns besonders passend, um die gewünschte Irritation auszulösen: Was macht denn der Beckenbauer da? Diese Frage ist das, was wir erreichen wollten.

Öl auf Leinwand: Martin Kippenberger
SENF: Schauen wir uns nun einige der gezeigten Werke genauer an. Hier das Werk Die Schönheit der Frau in der europäischen Malerei von Martin Kippenberger.
Strauss: Kippenberger war ein Künstler, der auf eine besondere Art und Weise Welten aufeinanderprallen liess. Wir sehen eine Frau, muttihaft, klischeehaft bürgerlich, ironisch; mit dem längeren Rock, der Jacke darüber, der Brille, der Frisur. Und dann hält sie einen Ball. Bürgerlichkeit und Fussball. Das ist interessant, weil es eine historische wie auch persönliche Beschäftigung mit Fussball anstösst. Fussball hat auch eine spiessige Seite. Wie ist Fussball zu dem geworden, was er heute ist? Es gab Zeiten, in denen Hochschuldozierende nur unter vorgehaltener Hand über Fussball diskutierten, weil es nicht der Sport der Gebildeten war. Kippenberger beschäftigte sich damit.

Tischbrett mit Lederball: Serge Spitzer
SENF: Kommen wir zur Arbeit Global Culture von Serge Spitzer. Diese zeigt einen automatisiert drehenden Tisch, auf dem ein Ball im Gleichgewicht gehalten wird.
Strauss: Dieses Werk hatte Spitzer spezifisch für die Ausstellung entwickelt. Sie müssen sich vorstellen, unter dieser weissen Fläche ist ein Motor, der die Platte immer wieder leicht kippen lässt; in alle Richtungen. Alles ist so austariert, dass der Ball nie herunterfällt. Es geht also im Kern um das Ausbalancieren von Risiko. Serge war ein ultimativer Fussball-Fan, als Künstler und als Mensch. Schaute er sich ein Fussballspiel an, sah er aber auch plötzlich etwas anderes. Er interessierte sich für die Fläche, das Feld – und plötzlich sah er den Ball, der immer von den Spielern im Feld gehalten wird. Genau das hat er umgesetzt, nur der Ball und die Fläche, ohne Spieler. Die Arbeit zeigt hervorragend, wie Kunstschaffende arbeiten: Sie filtern ein Thema heraus, machen daraus eine Arbeit, schaffen neue Kontexte. Ich danke Ihnen herzlich, dass Sie dieses Werk ausgesucht haben. Aber mich interessiert jetzt: Warum haben Sie es ausgewählt?
SENF: Weil das Werk Fragen auslöst. Es weckt eine klare Assoziation und spielt damit. Man glaubt etwas zu kennen, das einem zugleich unbekannt ist. Ich habe die Arbeit aber nur auf Bildern gesehen.
Strauss: Das, was Sie gesagt haben, finde ich wahnsinnig schön. Wenn ich nochmals entscheiden könnte, würden Sie unser Pressesprecher werden. [lacht] Genau darum geht es bei der Kunst. Man sieht etwas an, erkennt es und weiss doch nicht genau, was es ist. Da fängt es an, dass man in eine neue Perspektive geführt wird.

Still: Ingeborg Lüscher
SENF: Sehen wir uns die Arbeit Fusion von Ingeborg Lüscher an.
Strauss: Lüscher hat für diese Arbeit mit der Modemarke Trussardi zusammengearbeitet. In ihrer Videoarbeit sieht man die Fussballmannschaften Grasshoppers Zürich und FC St.Gallen in massgeschneiderten Manager-Anzügen beim Fussballspiel. Zunächst wird nur gespielt, plötzlich fliegt ein Laptop in Zeitlupe durch die Luft oder die Anzüge werden ausgezogen, ähnlich wie das Trikot bei einem Torjubel. Lüscher wirft mit der Arbeit Fragen zu Geld, Macht und Politik im Fussballkontext auf. Lüscher ist zwar kein Fussballfan, doch sie ist eine Künstlerin, die sich stark für mehrschichtige Themen interessiert. Und im Fussball ist das alles vorhanden.

Figuren aus Rosenholz: Werner Büttner
SENF: Schliesslich zum Werk Ein kulturimperialistisches Bubenstück von Werner Büttner. Was sehen wir hier?
Strauss: Eine komplexe Arbeit. Eine autobiografische Arbeit, die Büttner auch mit einem essayistischen Text hinterlegt hat. Die Geschichte seines Werks beginnt am 7. Juli 1974, als die deutsche Nationalelf die Weltmeisterschaft gewinnt. Büttner war damals 20. 13 Jahre danach entstanden die Figuren der damaligen Elf für diese Arbeit. Sie halten einen Moment im Spannungsfeld zwischen Gewinnen und Verlieren fest. Es geht hier auch um Stolz, verlorene Träume, Erinnerungen und um die Suche nach den Wurzeln von Gefühlen – eine doppelbödige, starke Arbeit.
SENF: Im Kunstkuchen selbst gab die Ausstellung mitunter Anlass zu vernichtender Kritik. Das Magazin Kunstforum betitelte sie als «absichtsvoll gelungener Schulaufsatz zum Thema ‹Kunst und Fussball›». Konnten Sie der Kritik etwas abgewinnen?
Strauss: Es wurde sehr viel darüber geschrieben, ein richtiger Verriss der Ausstellung ist mir nicht bekannt. Womöglich hatten sich aber viele vorgenommen, uns total zu verreissen. Und dann kam die Ausstellung, die eigentlich allen Spass machte und zu vielen guten Diskussionen führte. Alle merkten, dass die 75 gezeigten internationalen Künstler:innen total hinter dem Projekt standen und dass wir ein breites Publikum ansprachen. Es war auch keine reine Männerausstellung. Wir waren alle irrsinnig gut drauf, das hat alle angesteckt. Harry Szeemann hätte seine Freude gehabt. Und ich hatte den Eindruck – aber Achtung, das glaube ich jetzt einfach –, dass die Ausstellung wie eine Form von Attacke war, auf etwas, was auch den Kritiker:innen gehörte. Fussball nämlich. Jetzt wollte die Kunst auch da noch mitreden.
SENF: Kommen wir auf die ökonomische Logik zu sprechen, die sowohl Fussball als auch Kunst kennzeichnet. Rundlederwelten wurde von der DFB-Kulturstiftung kurz vor der WM im eigenen Land veranstaltet. Wann kippt Kunst in reine Aufmerksamkeitsgenerierung – oder: Wie haben Sie versucht sicherzustellen, dass die Kunst nicht zur Werbung verkommt?
Strauss: Durch kuratorische Präzision und Hartnäckigkeit. Wir haben beispielsweise ein Werk des Fotografen Jürgen Teller gezeigt. Teller sitzt nackt in der Sauna, liest Kicker, und man schaut direkt auf seinen Anus. Darunter steht: Arschloch liest Kicker. Eine sehr humorvoll-derbe Arbeit. Nicht alle erfreuten sich an diesem Werk, es gab sogar Stimmen, die forderten, das Foto abzuhängen. In solchen Situationen bin ich jedoch hart geblieben. Ich glaube, die Dinge verkommen nicht, wenn man die Fahne der Freiheit der Kunst hochhält. Klar war: Hier geht es um künstlerisches Schaffen, das sich mit dem Phänomen Fussball beschäftigt.
SENF: Sie selbst wechselten 2013 von der Kunst- in die Versicherungsbranche – wurden gewissermassen von der Kuratorin zur Managerin. Offen gefragt: Hat die Auseinandersetzung mit dem Fussball oder Fussballpersönlichkeiten wie Franz Beckenbauer bei Ihnen die Begierde geweckt, selbst viel Geld zu verdienen?
Strauss: Bei Begierde fällt mir eher die Sendung «Sportstudio» ein: Ich trat nämlich damals dort auf und stellte Rundlederwelten vor. Doch die Zeit reichte nicht mehr, auf die Fussballwand zu schiessen. Ah, was für eine Enttäuschung [lacht]. Ja, Geld und Kultur, da sind wir wieder bei den Klischees angekommen; als Museumsdirektorin verdient man prima. Und die Mobiliar ist eine Genossenschaft, bei der die Löhne nicht in den Himmel wachsen. Ich bin nicht ins klassische Management gewechselt, sondern habe bei der Mobiliar eine neue Abteilung für «Corporate Social Responsibility» gründen und aufbauen dürfen, die sich mit dem Verhältnis zwischen Nachhaltigkeit, Innovation und Kreativität beschäftigt. Für mich ganz klar eine kuratorische Aufgabenstellung. Da bin ich eine klassische Kuratorin der 1990er-Jahre, mich interessiert Kontext – da komme ich her. Mich haben in meinem Leben immer Projekte beschäftigt, bei denen ich Transfers von Kontexten moderieren und erarbeiten kann. Wie damals bei der Fussballausstellung, so auch heute: Mich interessiert Anschlussfähigkeit.