Über das Zuhören

«Das Wort gehört halb dem, der spricht, und halb dem, der angesprochen ist», schreibt Michel de Montaigne. Was kennzeichnet den Akt des Zuhörens? Verfasst an der Universität Luzern, 2020.

Im Badezimmer eines Hauses am Thunersee – da, wo ich die ersten Tage nach dem Ausruf des Coronanotstands in Isolation verbringe – heisst es in roten Lettern geschrieben: «Nimm Rücksicht auf Wartende. Fasse dich kurz.» Das Schild, es handelt sich offenbar um die Schenkung eines sammelwütigen Bahn-Pensionärs, kann mehrdeutig verstanden werden, es scheint seine Bedeutung von der gegenwärtigen Betätigung des Betrachtenden abhängig zu machen; es passt sich an. Wer zur Toilette geht, wird vom Schild zur Eile ermahnt. Wer das Mobiltelefon zückt, wird zur Kürze von Chatmitteilungen oder Sprachnotizen angehalten. Wer telefoniert, wird aufgefordert, keine Romane zu erzählen. Wer handelt, so scheint das Schild zu behaupten, schnürt Handlungen ab.

Eine Handlung, die durch ihre Existenz eine zweite Handlung aufhebt, beziehungsweise diese verändert – anstelle des Klogangs erfolgt exemplarisch der Akt des Wartens –, erinnert das erwähnte Badezimmer-Schild an Eigenheiten einer Unterredung, eines Gesprächs, eines Dialogs; die Verknüpfung von Rede und Gegenrede. Wer spricht, verhindert damit das Sprechen des Gegenübers, drängt das Gegenüber in die Rolle des Zuhörenden. Wer schweigt, sich zuhörend gibt, fordert – von der Option des gemeinsamen Schweigens abgesehen – das Gegenüber zum Sprechen auf, signalisiert: Du bist an der Reihe. Dieses Hin und Her des Verbalen will ich im Folgenden zu greifen versuchen, genauer, das vermeintlich passive Moment des Gesprächs: das Zuhören.

Sich selbst kann man gar nicht hören

Hören Sie mich? Oder vernehmen Sie mich bloss? Ob es dazwischen einen Unterschied gibt, und worin dieser liegen könnte: Ich weiss es nicht. Versuchen wir es herauszufinden. Sehen wir uns dafür den Akt des Hörens genauer an. In seiner Studie Zum Gehör stellt Jean-Luc Nancy fest, dass das Hören öffnet – und zwar in zweiteiliger Weise: Das Gehör öffnet sich der Resonanz und die Resonanz öffnet sich dem Gehör. Nancy legt einen Moment des «Ins-Spiel-Bringens» dar, womit ein Verweis auf eine andere, zuvor überhörte, Präsenz gemeint ist. Dem Akt des Hörens gelingt es, eine Sache aus einer Abwesenheit in die Anwesenheit zu zerren, das Anderswo erscheint Hier. Wenn das Hören öffnet, wie öffnet man sich dem Hören? «Der Sinn öffnet sich», so Nancy, «im Schweigen.» Als Kind habe ich zu sagen gepflegt (bestimmt auch noch heute), ich höre doch zu, wenn ich vom Gegenüber ermahnt wurde, vor lauter Dahergerede bitte das Ohr nicht auszuschalten. Ich verstehe das nicht. Wieso sollte das eine, das Sprechen, das andere, das Hören, ausschliessen? Ich verstehe es doch. Dank Nancy, der erläutert, etwas zu sagen, sei nicht lediglich sprechen und sprechen sei nicht lediglich bezeichnen, vielmehr sei beides auch: diktieren.

Wer spricht, diktiert, verleiht, oder eher eingraviert, dem Sagen seine Tonalität – seine Gangart. Das Ohr schaltet sich dabei, wie ich bereits als Kind zu wissen meinte, nicht aus – ganz im Gegenteil, wie ich nun lerne, vielleicht ist es aufnahmefreudiger denn je (sofern man sich gerne selbst reden hört); es unterliegt jedenfalls ganz der Diktion. Wer diktiert, hört: aber nur sich selbst. Sind Diktatoren deshalb so gefährlich, weil sie sich in ihrer eigenen Echokammer einschliessen? Weil ihre Filterblasen bloss aus einer einzigen Blase, ihrer eigenen Stimme, bestehen, bis die Blase platzt? Vielleicht aber, und damit wären wir zurück bei der Ursprungsfrage, habe ich Nancy falsch verstanden, bin mindestens einen Schritt zu weit gegangen. Genau genommen kann man sich selbst gar nicht hören. Denn die Öffnung, das Ins-Spiel-Bringen bleibt dabei aus, es wird keine Abwesenheit in die Anwesenheit gezerrt, sondern lediglich eine Anwesenheit verdoppelt. Wer spricht, hört sich nicht – sie oder er nimmt bloss wahr, in duplizierter Ausführung. So verdeutlicht sich, was einführend zur Unterscheidung zwischen dem Hören und Vernehmen gefragt wurde: Das Hören unterscheidet sich vom Vernehmen in seiner Öffnung, in der Intensivierung eines Äusseren.

Wenn Kant vom zweiten Auge spricht, meint er auch das Ohr

Vom Hören zum Zuhören. In einem schönen Vortrag, gehalten 2017 an der Universität Zürich, beschreibt die Philosophin Christine Abbt das Zuhören als ein «subversiver Akt». Sie meint damit, dass Zuhörende ein Fundament von Bestehendem und Gewohntem unterlaufen würden – unüblich und fragwürdig handeln. Aber ist das so? Die Wissenschaft zuckt mit den Schultern. Ein eindeutiger Massstab, inwiefern vermeintlich Zuhörende aktiv zuhören, scheint es nicht zu geben. Selbst dann, wenn zwei Menschen von sich behaupten, sich gegenseitig zu verstehen – so Abbt –, ist nicht erwiesen, ob dies der Fall ist oder nicht. Also ein Fall für die Philosophie? Sicherlich ein Fall für Immanuel Kant. Zwar weiss auch dieser nicht wie die ideale Zuhörerin, der ideale Zuhörer darzulegen wäre, aber Kant geht von der Umkehrung aus. 

In der Gestalt des antiken Zyklopen, der dummen Gegenfigur des weisen Sokrates, findet er einen miserablen Zuhörer. Einen Egoisten, der – gekennzeichnet durch sein Einzelauge auf der Stirn – nicht imstande ist, den Gesichtspunkt eines anderen Menschen einzunehmen. Selbst dann, wenn der Zyklop vorgibt zuzuhören, erfasst ihn stets das Eigene und Bekannte. Der Zyklop denkt so, wie ich es zuletzt in einer geschäftlichen Videobesprechung bei einer geschätzten Kollegin erblicken musste (vielleicht hat sie bei mir selbiges festgestellt), in seinen eigenen Problemen. Für Kant ist dies nicht nur mit Betonung eines Äusseren bedauerlich, vielmehr zeige sich eben gerade in dieser Weltwahrnehmung des Gegenübers die Pflege der eigenen Grösse: «Das zweyte Auge ist also das der Selbsterkenntnis der Menschlichen Vernunft, ohne welche wir kein Augenmaas der Grösse unserer Erkenntnis haben.» Das zweite Auge? Vielleicht auch das zweite Ohr.

Werden Nicht-Zuhörende durch Sprache und Form zu Zuhörenden?

Aber wo genau liegt nun ein subversives Moment im Akt des Zuhörens? Und, was ich mich – vielleicht beschäftigt dies ja auch Sie – seit Beginn dieses Texts frage, sind Musikhörende eigentlich besonders gute Zuhörerinnen und Zuhörer? Nicht zwingend, beschreibt Denis Diderot, für den sich beim geniessenden Zuhören – wie eben dem Lauschen von Musik – die zuhörende Instanz ganz an das Gegenüber verlieren würde. Eine Form von subversivem Zuhören bleibe in diesem Rahmen deshalb aus, weil es nicht zu einem Einbezug des Anderen als Anderen komme; die Abwesenheit lässt sich gewissermassen, wie zuvor im Lichte des Hörakts dargelegt, von der Anwesenheit nicht zerren, sondern verharrt. Doch findet Diderot das subversive Zuhören durchaus in der Kunst: bei Schauspielerinnen und Schauspielern. Denn ihnen würde es einerseits gelingen, ausserordentlich aufmerksam zuzuhören – im Prozess zur Einübung einer Rolle –, andererseits gelinge es ihnen, ein Publikum zu konzentrierten Zuhörenden zu machen. 

Wie gelingt dies den Schauspielerinnen und Schauspielern? Und wie könnte es der Gesellschaft glücken, gar Wesen mit ausgeprägt zyklopischen Zügen zum Zuhören anzuregen? Christine Abbt verweist hierzu auf eine «Ästhetik», eine Vorstellung davon, wie künstlerisch und philosophisch vorgegangen, geschrieben und gesprochen wird. Wenn die Signatur der Pluralität aktiviert werden soll, so Abbt, brauche es ein Bemühen um eine Sprache und Form, die den Einbezug des Anderen und Fremden üben lasse. Es brauche Ironie, Vielstimmigkeit und Dialogizität – offenbar insbesondere von den Sprechenden. Wirklich? Laufen wir damit nicht Gefahr, etwas Massgebliches zu übersehen, den Ausgangspunkt des Zuhörens einseitig zu lokalisieren? Liegt es denn tatsächlich an den Sprechenden, die Zuhörenden für sich zu gewinnen? Oder könnte es sein, dass die Kunst des Zuhörens eben gerade darin liegt, dass Zuhörende dem Gegenüber ein offenes Ohr schenken, noch bevor die Attraktivität einer geäusserten Aussage erkennbar wird?

Der Zuhörende läuft sich frei, gibt ein Signal und nimmt beweglich entgegen

Eine Antwort darauf verspricht er, geradezu Meister der Dialogizität: Michel de Montaigne. In seinem Kapital Über die Erfahrung seiner Essais heisst es: «Das Wort gehört halb dem, der spricht, und halb dem, der angesprochen ist. Dieser muss bereit sein, es in der Bewegung aufzufangen, mit der es auf ihn zukommt, so wie beim Paume-Spiel der Auffangende durch Vor- und Zurückspringen sein Verhalten ganz nach den Bewegungen des Schlägers und der Art des jeweiligen Schlages richtet.» Mit Montaigne gedacht, liegt das geteilte Wort demnach in einem Miteinander, wesentlich geprägt von der Bereitschaft des Zuhörenden, den Ball – also das Wort – aufzuschnappen, in welcher Bewegung auch immer dieser beziehungsweise dieses auch daherkommen mag. 

Dieses Bild liesse sich, bei der Sportmetapher bleibend, zuspitzen: Zuhören ist ein Akt, wie ihn talentierte Torjäger im Fussballspiel beherrschen. Es gelingt ihnen, den Ball genau so anzunehmen (ob präzise oder ungenau gespielt, ob sich pfeilgerade oder mit Effet nähernd) wie er vom Mitspieler kommt. Doch gar noch davor – und ich meine, dies sei entscheidend – läuft sich die Torjägerin, der Torjäger frei und signalisiert dem Mitspieler – dem Zuhörer – ihre Anspielbarkeit; idealerweise diskret und unaufdringlich, so nämlich, dass der Mitspieler sich nicht unter Druck gesetzt fühlt. Und der Gegenspieler erst gar nichts davon erfährt.

Montierte ein Gast das Schild im Badezimmer des Hauses?

Den Idealtypus des aufmerksam Zuhörenden trifft Jacques Derrida nicht auf dem Sportplatz, sondern in der Gaststätte an. Derrida bringt das Zuhören mit der Rolle der Gastgeberin in Verbindung; in der Gastfreundschaft zeige sich die Bereitschaft, einen Anderen bei sich aufzunehmen – vorübergehend aufzunehmen. Der Gast dürfe sich wie zu Hause fühlen, aber eben nur «wie»: entscheidend scheint auch an dieser Stelle der Einbezug des Anderen als Anderen, wie von Diderot in der Abgrenzung zum Musikhören betont. Wer zuhört, schenkt – so Derrida – dem Gegenüber das Wort, gleichzeitig – sofern das Geschenk angenommen wird – lässt ihn dieser in einen Innenraum eintreten; teilt sich mit. So entstehe ein Zwischen-Zuhause, indem weder Gast noch Gastgeber ganz zu Hause sind, ihre Gastlichkeit verbindet sie. In diesem Moment entfaltet sich für Derrida der ganze Wert des Zuhörens: Der Gastgeberin wird bewusst, dass im Gespräch mit dem Gast, auch sie selbst Gast ist; als Empfangende zur Empfangenden wird.

Bild: Familie Hubacher

Da, am Thunersee, wo ein Schild im Badezimmer hängt, klopft an einem Sommerabend 1922 ein Gast an. Auf der Matte steht Robert Walser. Eine Woche lang ist der Schriftsteller zu Gast, nach der Abreise sinnt Walser im NZZ-Feuilletonbeitrag Wie sich etwa ein Gast benähme seinem Aufenthalt nach. Walser schreibt: «Gäste sind ein Unterhaltungsmittel, das muss man wissen. [...] Man nimmt an, er sei sich ungefähr bewusst, wann für ihn der Augenblick käme, sich für die genossene Güte zu bedanken. Er tuts dann leise, als versteh’ sichs von selbst und sei etwas, das man vergessen dürfe. Er empfiehlt sich linkisch, damit sie ihm lächelnd nachschauten, ers im Rücken spüre; sie dächten dann, sie sprächen lieber nicht über ihn und lebten ihr Leben und er seines.» Womöglich, nun sehe ich es klar, war es nicht ein Bahn-Pensionär, dem das Schild im Badezimmer des Ferienhauses, von dem niemand so genau weiss, woher es stammt, zu verdanken ist. War es Robert Walser selbst, der es montiert hatte? – «Nimm Rücksicht auf Wartende. Fasse dich kurz.»