​Sangallä: 1, Papi: 0

Das Grosse klein, das Kleine gross machen: Als Kind zeichnet Manuel Stahlberger erfundene Maschinen mit überdimensionierten Pneus. Später brüskieren seine Karikaturen Lehrpersonen, das gutbürgerliche Gehabe im Notkersegg-Quartier und Nonnen aus dem benachbarten Kloster. «Nöd bös gmeint, aber au nöd viel überleit», sagt der 47-jährige Zeichner und Liedermacher heute. Sein Werk, entstanden irgendwo zwischen Spiellust und Kopfzerbrechen, klammert sich am Fiktionalen fest. Mit «S erscht mol» besingt Stahlberger seinen ersten Stadionbesuch und gibt sich damit erstmals autobiografisch. Das Espenmoos liefert die Kulisse, in der Hauptrolle der Vater, der irrt. Erschienen im Fussballmagazin SENF, 2021.

Bild: Familie Stahlberger

Es gibt diese eine verschollene Videoaufnahme, aufgezeichnet 1994 am jährlichen Quartier-Risottoessen in der Notkersegg, die als Schlusssequenz von Manuel Stahlbergers Fussballphase gelten könnte. Stahlberger schildert die aufgezeichnete Szene detailgespickt, sodass Bilder wie in seinen erdichteten Liedern geweckt werden – aber so ist es passiert: «Mölä und Stahli», wie sein Jugendfreund Moritz Wittensöldner und er im Quartier genannt werden, etwa 20 Jahre alt, spielen ein Konzert auf der improvisierten Bühne neben dem Fussballplatz. Kind und Kegel essen vor der Bühne Risotto. Dann ein Kameraschwenk in Richtung Fussballfeld – zu sehen: «De Vater Barnetta mit de zwei Jungs Eckbäll am Üebe. Aso de Vater schüsst d'Flanke.» Alles sei drin in dieser Aufnahme, sagt Stahlberger: «I bi denn uf d'Musig, d'Barnettas sind uf Fuessball.» 

In einem Verein kickt Stahlberger nie. Doch seine Kindheit verbringt er auf dem Fussballfeld im Quartier. «En chline Lumpeplatz, schräg und alles.» Kleiner Rasen, keine Anweisungen von der Seitenlinie – alle spielen alle Positionen. «Es isch nöd so taktisch gsi, da chani nöd. I ha eifach super gern tschuttet.» Auch bei Regen: «Häsch halt immer müesse Lüt finde, wo trotzdem chömed.» Stahlbergers Familie ist weniger fussball-, denn handballbegeistert; sein Onkel – Urs Stahlberger – spielt für den TSV St.Otmar und 48-mal für die Schweizer Nationalmannschaft. Auf ersten Konzerttouren durch die Schweiz wird Stahlberger regelmässig darauf angesprochen, ob er mit dem Handballer Stahlberger verwandt sei. Stahlbergers Vater spielt Feldhandball. «Aber i ha da nie gseh.» 

Als Neunjähriger begleitet Klein-Stahlberger seinen Vater erstmals ins Espenmoos zu einem Heimspiel des FC St.Gallen. Wie er es Dekaden später im Liedtext festhalten wird, wünscht sich der Zweitklässler anschliessend ein Fido-Trikot, das er bekommt und das ihn zum FCSG-Anhänger macht. «Jo würkli, huere mitglitte und gfieberet – halt Fan si.» Verpasst er ein Spiel, wählt er mit schwitzigen Händen das Sporttelefon, um das Resultat zu erfahren. Auswärtsspiele verfolgt er im Radio: «Und denn chunnt wieder Musig und du traaisch halbe dure, will während däre Musig öppis cha passiere.»

Zeichnen bis das Quartier tobt und sich Lehrpersonen in die Luft sprengen

Ist der junge Stahlberger nicht auf dem Fussballfeld anzutreffen, sitzt er vor einem Blatt Papier und zeichnet. «Es hät bi üs immer Stift und Papier umegha.» Seine ersten Zeichnungen zeigen Autos, Baustellen und erfundene Maschinen – das Kennzeichen: riesengrosse Pneus. «Als Bueb hani nie gfunde, es mue guet wärde – i ha’s eifach irgendwie gmacht.» Nicht das Resultat, sondern der Prozess steht im Vordergrund; die Spielwelt, die sich frei aus dem Gekritzel entfaltet. «Zeichne isch so öppis trancemässigs.» Auf Papier kann entstehen, was in der direkten Umgebung fehlt – oder nicht möglich ist. «Notkersegg isch e abgschlosseni Oase. Häsch nöd mol en Lade, nöd mol en Kiosk, nur d'Haltstell vo de Trogener Bahn.» Als Teenager gründen Stahli und Mölä eine Quartierzeitung. «Nöd grad e Protestziitig, mir hend üs eifach luschtig gmacht über de Groove im Quartier. Irgendwie wohnsch döt, als Teenie hassisch da Chlirüümige, da Eifamiliehüsliding. So wöttsch nie wärde.» Ausgabe für Ausgabe füllen Stahlberger und Wittensöldner mit gezeichneter und geschriebener Ablehnung gegen das Gutbürgerliche – auch Nonnen aus dem Kloster Notkersegg werden aufs Korn genommen. Die Reaktion: ein kurzer Quartieraufstand, grosser Aufruhr im Kleinen. 

«Noch acht, nüü Usgobe isch üs denn nüt meh in Sinn cho – denn hemmer gfunde, jetzt mache mir öppis anders, jetzt mache mir halt Lieder.» Sie organisieren ein Fest, um erste Musikstücke einem Publikum vorzuführen, dann folgt der besagte Auftritt am Risottoessen – später eine erste Kassette mit Liveaufzeichnungen: «Mölä und Stahli im Hasewäldli». Titelgebend ist das Waldstück, in dem sich Stahlberger und Wittensöldner nach dem Fussballspielen treffen, bräteln und neue Dinge aushecken. Die Lieder verbreiten sich rasch und wie von selbst, es folgen erste Anfragen für Konzerte im kleinen Rahmen. «Mir hend eifach s'Telefon abgno, wenn öppert gfroget hät, susch hemmer üs nöd kümmeret. Irgendwie hät sich’s umegsproche, dass do zwei Jungs komischi Lieder mached.»

An der Kantonsschule am Burggraben, die Stahlberger für kurze Zeit besucht, zeichnet er Karikaturen von Lehrpersonen. «Häsch so chöne umegeh, wenn’s gnervt hend – ide Zeichnige sind’s halt irgendwo inetrampt oder abegheit oder hend sich id Luft gsprengt.» Einen vorgegebenen Platz in der Gesellschaft, eine Anstellung, eine klar abgesteckte Berufstätigkeit, kann sich Stahlberger als Jugendlicher nicht vorstellen. «I ha irgendwie nie vertreit, wenn mir öppert gseit hät, wieni’s mache mue.» Er will sein eigenes Ding durchziehen, nach der obligatorischen Schulzeit wird er Künstler und Zeichner, nimmt Aufträge als Karikaturist an, die allerdings nur ein Sackgeld einbringen. Die Konzerte werden besser bezahlt, 200 bis 300 Franken pro Abend. Mit einigen Auftritten pro Monat und dank einer günstigen Miete schlängelt er sich durch. «I ha gmerkt: Da goht jo.» Obwohl er in erster Linie zeichnen will, setzt Stahlberger auf das Liedermachen. Zunächst vor allem in der Ostschweiz und im Bernbiet, später treten «Mölä und Stahli» in der ganzen Deutschschweiz auf. Die Lieder entstehen gemeinsam, im Vordergrund steht die Wortspielerei. «Me hät sich inen komische Reimruusch inegschwätzt.»

Nach acht Jahren gehen Stahlberger und Moritz Wittensöldner getrennte Wege, 2003 schliesst sich Stahlberger mit dem Giacobbo-Müller-Tüftler Stefan Heuss zusammen. Für das mit einer Pneu-Hebebühne oder Pingpongkanone gespickte Bühnenprogramm von Stahlbergerheuss schreibt Stahlberger erstmals allein Lieder. «S'isch hart gsi, da Gegenüber nöd z'ha. I find da eigentlich öppis Schöns, us ere Idee im Ruum öppis Neus z'mache. Da hani denn elei müesse.» Je länger, desto weniger interessiert sich Stahlberger für raffinierte Reimstrukturen, die Geschichten gewinnen an Tiefe, die Lieder werden ernsthafter.

Wenn GC als Verlierer dasteht – und Vaters Prognose in die Hose geht

«Direkt inspirierend müend Gschichte gar nöd si», sagt Stahlberger: «I ha eifach gern, wenn’s inere Gschicht vorwärts goht. I loh mi gern wegträge vonere Gschicht.» Die Verbindung zu Mani Matter, die in Kritiken gern gezogen wird, beschäftige ihn zwar wenig, ehre ihn aber. «Ganz am Afang isch da scho e Referenz gsi, welli da als Chind sälber ufgsoge han.» Die Liedtexte der Matter-Kassette «Ir Ysebahn», veröffentlicht kurz bevor Stahlberger zur Welt kommt, habe er als Kind auswendig gekonnt. «Am liebschte hani die gha, wo’s uswäglos wird, gfürchig – de eint, wo uf’s Amt mue und sich i de Gäng verlauft, so Labyrinthsache.» Heute höre er kaum mehr Mani Matter, aber die eigenen Kinder würden sich neuerdings dafür interessieren. Matters Geschichten bleiben für ihn eindrücklich: «S'Verknappte. Oder öppis z'verkompliziere, wo eigentlich nöd kompliziert isch – da findi schön und machi au gern. Us nüt ä riese Zügs.» Gefragt nach Eigenheiten seiner eigenen Lieder und Texte spricht Stahlberger von «Schwäri», «Herti» und «Ränder». Als theoretische Idee habe er sich zuletzt überlegt, ob ein abendfüllendes Stahlberger-Konzert nur mit guter Laune, ganz ohne Melancholie, überhaupt denkbar sei. «Ales ei Einigkeit, kei Usenandersetzig mit Garnütem isch nötig, kei Riibig. I glaub, da gängt nöd – oder i chönnt’s nöd.» 

Bild: Oliver Kerrison

Seit 2009 bildet Stahlberger mit Michael Gallusser, Marcel Gschwend, Dominik Kesseli und Christian Kesseli die Band «Stahlberger». Was die fünf Musiker verbindet, sei schwierig zu benennen. Eine Ausformulierung drohe dem Kitsch zu verfallen. «Jede nimmt sich mol zrugg und chunt e anders mol chli meh zum Zug.» Dadurch bleibe Raum für die Freundschaft, die nicht von künstlerischen Differenzen angegriffen werde. «Oder so. I studier nöd so über da no, i merk eifach, es tuet mir guet mit dene Lüt und i glaub es goht allne so.» Neben vier Alben mit der Band – «Rägebogesiedlig» (2009), «Abghenkt» (2011), «Die Gschicht isch besser» (2014), «Dini zwei Wänd» (2019) – veröffentlicht Stahlberger 2012 sein erstes Solo-Album «Innerorts». 2016 folgt das zweite Solo-Album «Kristalltunnel», in Zusammenarbeit mit dem St.Galler Produzenten und Stahlberger-Bassisten Bit-Tuner erscheint 2020 das jüngste Album «I däre Show». Das Album sei, so schreibt der Tagesanzeiger, das «im besten Sinne Trostloseste, was das Schweizer Musikschaffen in diesem sonderbaren Jahr hervorgebracht hat». 

Während pandemiebedingt die Stadien weltweit leer bleiben, besingt Stahlberger in «S erscht Mol» über ein dumpfes Bit-Tuner-Brett den ersten Stadionbesuch, 1983, als der FC St.Gallen die Zürcher Grasshoppers 5:1 besiegt. Detailreich erzählt das Stück die Voraussage des Vaters, der auf eine 1:3-Niederlage tippt, einzelne Spielszenen um Paul Friberg oder Martin Gisinger und den anschliessenden Besuch bei den Grosseltern nach. «De Uslöser isch die Gschicht mitem Vater gsi. De erscht bewusst Moment, woni gmerkt han, er hät gar nöd immer recht.» Stahlberger recherchiert – findet in Archiven Vorschauen der lokalen Presse, Matchberichte, Bildmaterial und einen 16-minütigen Fernsehmitschnitt, der die wichtigsten Spielszenen kommentarlos zeigt. 

«S’isch ales wieder do gsi. Viel en zuefälligere Fuessball als hüt. Und s'Espemoos en riese Acker, will’s grägnet hät.» Er schaue sich Fussballspiele nicht analytisch an, umso mehr würde taktikbefreites Gekicke nostalgische Gefühle bei ihm wecken. «Me spielt de Ball am Goalie zruck und dä kickt mol füre und denn luegt me, wa passiert, hät öppis Schöns gha irgendwie.» Das Lied als Resultat einer tagelangen Recherche, als Nacherzählung der eigenen Geschichte. Auch in dieser Hinsicht trifft der Songtitel zu: S erscht Mol. «Es git glaub kein Song, wo 1:1 isch, ussert dä.»

Der Beton allzu sauber, das Gekicke auf der Tschuttiwiese magnetisch

Acht Jahre nach dem Risottokonzert mit «Mölä und Stahli» und Papi Barnetta an der Eckfahne, debütiert Tranquillo Barnetta junior 2002 als 17-Jähriger beim FC St.Gallen. «I weiss no, da isch bsunders gsi, wo de Quillo s'erscht Mol i de erschte Mannschaft gspielt hät. Da isch mir iigfahre, ihn z'gseh bim Ilaufe.» Der Lumpenplatz verbindet. «Mir hend eifach zäme tschuttet, denn isch er en chline Bueb gsi und i en Teenie.» Zuletzt an einem FCSG-Heimspiel war Stahlberger vor Jahren, in der NLB-Saison nach der Eröffnung des neuen Stadions. 

«De suber Beton und sie hend denn au ständig gwune, s'isch irgendwie zu suber gsi.» Am liebsten schaue er einem Spiel zu, wenn sich dies einfach so ergebe. «I cha au a irgend anere Tschuttiwiese verbilaufe, wo paar am Kicke sind, da hät öppis Magnetisches für mi.» Beim SC Brühl im Paul-Grüninger-Stadion sitzt er hin und wieder auf der Tribüne, doch letztlich kümmere ihn der FC St.Gallen doch am meisten. Nahe sei er nicht mehr dran, so Stahlberger, um dann doch auf die ärgerliche Niederlage vom letzten Wochenende zu sprechen zu kommen. In der zweiten Strophe seines Vater- und Fussballlieds geht Klein-Stahlberger, auf einem Harass stehend, durch den Kopf: «Fuesball intressiert mi gar nöd so. Also au nöd grad nöd. Also irgendwie scho au scho.» Könnte es sein, dass hier der 47-Jährige aus dem Neunjährigen spricht?