Zeuseln wie Signer
Will sich Roman Signer seiner Strickmütze entledigen, benötigt er dafür bloss Schnur und eine 1.-August-Rakete. Signer zündet das Feuerwerk, die Rakete zischt in die Höhe, reisst die Mütze mit; der Sprengmeister bleibt hinterherblickend in der Landschaft stehen. Die Aktion von 1983, damals festgehalten in flimmerndem Super-8-Filmformat, wird im Musikvideo zur neusten Deichkind-Single Dinge nachgestellt.
Anstelle von Signer steht da der deutsche Schauspieler Lars Eidinger, befeuert werden angestaubte Kabelkopfhörer statt flauschiger Mütze. Auch ein zweites Werk des Ostschweizer Künstlers wird im tausendfach geklickten Musikvideo aufgegriffen: So wie Roman Signer Hocker aus dem Appenzeller Kurhaus Weissbad katapultiert, lassen Deichkind Lieferkartons aus einem baufälligen Gebäude segeln.

Still: Peter Liechti

Still: Deichkind
Beinahe die Finger verbrannt
«Niemand schmeisst so elaboriert Dinge aus dem Fenster wie Signer», sagt der Video-Regisseur Timo Schierhorn, selbst fester Bestandteil der Deichkind-Familie. Gemeinsam mit der Produktionsfirma sei deshalb ein aufwendiges Katapultsystem entwickelt worden. Doch beinahe hätten sich Deichkind an Roman Signer die Finger verbrannt. «Damit die Kartons exakt gleichzeitig aus dem Fenster fliegen, mussten wir schliesslich in der Nachbearbeitung einen Filmtrick anwenden», so Schierhorn.

Still: Roman Signer

Still: Deichkind
Die Faszination für Signers Handwerk, der die Hocker damals mit einem Gummiband aus dem Kurhaus spickte, ist ungebrochen. Vor Jahren tauchte der Gegenwartskünstler bereits in einem Musikvideo der Deutschrapper von Blumentopf auf. Deichkind schwärmen für Signer, weil ihm gelinge, was auch die Band selbst versuche. «Er geht an die Schmerzgrenze, produziert Peinlichkeiten – aber immer mit System», sagt Schierhorn. System bei Deichkind hat das bewusste Nacheifern. Neben Roman Signer werden im Musikvideo auch die US-Pop-Sängerin Miley Cyrus, Spielfilmszenen oder Amateurvideos neu interpretiert. Regisseur Timo Schierhorn beschreibt: «Wir kopieren, um gleichzeitig herauszufinden, was dahintersteckt.»
Deichkind spielen auch mit Material aus dem hauseigenen Fundus, nehmen Bezug auf frühere Songs und vorangegangene Videos. Bevor Lars Eidingers Kopfhörer in Signer-Manier emporgeschickt werden, führte er diese im Clip zu Keine Party im Stampfspaziergang durch Berlin aus.
Theaterstück im Sittertobel
Während Roman Signer für das trügerisch Einfache steht, gelten Deichkind als Meister der spektakulären Materialschlacht. In Dinge werden neben Lieferkartons auch Waschmaschinen, Lautsprecherboxen und Holzklaviere aus dem Gebäude geschmettert. Deichkind fragen um den Wert der Dinge, ohne sich dabei explizit gegen Schlechtes oder für Gutes zu positionieren. Musikalisch tritt die Gruppe um die drei Frontmänner Kryptik Joe, Porky und La Perla alles ein, was sich ihnen in den Weg stellt.
Ihre Liveshow beschreiben die Hamburger selbst als Kindergeburtstag für Erwachsene. 2008 und 2016 bespielten sie das Open Air St.Gallen, die grössenwahnsinnige Inszenierung hallte nach. Als die Besucherinnen und Besucher des Festivals diesen Sommer nach Headliner-Präferenzen befragt wurden, tauchten Deichkind wiederholt auf den Wunschlisten auf. So verkündeten die Veranstalter zuletzt die Rückkehr von Deichkind im kommenden Jahr. «Deichkind stehen für Krawall und Remmidemmi, das passt zur Sitterbühne», sagt Nora Fuchs vom Open Air St.Gallen. Derweil laufen bei Deichkind die Proben. «Die Show wird inszeniert wie ein Theaterstück», so Video-Regisseur Timo Schierhorn. Weil sich die Bühnenshow wie eine Collage aus den Elementen der Musikvideos zusammensetzt, könnten auch Signer-Inszenierungen im Sittertobel zu sehen sein – da, wo Signer selbst schon Tische fliegen und Springbrunnen herstellen liess.
Signer weitab vom Schuss
Die Neuinterpretation will Deichkind als Hommage an Roman Signer verstanden wissen. «Sein Humor und seine Versuchslust haben die Umsetzung des Videos geprägt», so Timo Schierhorn. Direkt in Kontakt seien sie mit dem 81-jährigen Künstler bisher nicht gestanden, Deichkind bewundern ihn aus der Ferne. Aber hat Roman Signer von den Zitaten Deichkinds Notiz genommen? Eine Nachfrage führt ins Leere. Signer befindet sich zurzeit auf Chinareise. Von der ständigen Erreichbarkeit und dem hohen Tempo der digitalen Kanäle, die Deichkind gerne in ihren Texten sezieren, keine Spur. Seine langjährige Weggefährtin und Gattin Aleksandra Signer lässt ausrichten: «Wenn Sie ihn dringend etwas fragen wollen, dann müssen Sie nach China reisen.» Signer bleibt unerreichbar.